Eine wundersame Lehre
by Ute Carson
"Eine wundersame Lehre," Das Fenster, Jahrgang 107, Dezember 2010 No.4.

Die Woche vor Weihnachten! Ich sitze mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und stopfe Wollreste unter das Fell des Steckenpferdes, das ich für Alexander, meinen jüngsten Enkel, anfertige. Seit vielen Jahren habe ich Pferdegefährten für alle meine Enkelkinder gebastelt, braune, graue und scheckige. Dieses Pferdchen ist aus weichem, schwarzen Samt geschneidert und hat sternenförmige, hellbraune Knopfaugen. Die wallende Mähne, die einem Wirbelwind gleichen soll, drehte ich aus dicker, weißer Wolle. Aus erdfarbenen Bändern habe ich das Zaumzeug geflochten. Zum Schluß werde ich noch die Nüstern sticken, damit es so aussieht, als ob das kleine Tierchen wiehern könnte. Dann bin ich fertig und meine überraschung kann in glitzernes, grünes Papier gewickelt werden.

Während ich so vor mich hinbastle, tauchen lebhafte Bilder aus der Vergangenheit auf. Plötzlich befinde ich mich wieder im Schloß meiner Vorfahren auf schlesischem Boden. Ich bin vier Jahre alt und es ist Weihnachten 1944. Meine Kindheitsjahre waren beglückend unbeschwert, aber Weihnachten war märchenhaft.

Man läßt mich an diesem feierlichen Abend in meinem Rapunzelturm warten, einem verschnörkelten Anbau am Ende des Hauptgebäudes, erreichbar über eine steile Wendeltreppe. Ich schaue aus dem Fenster auf einen sich schlängelnden, schäumenden Fluß hinunter und mit meinem Zeigefingernagel ritze ich Sterne in die eisbeschlagene Scheibe. In der Ferne donnern Kanonenschüsse, die für mich wie ein gewöhnliches Gewitter klingen. Ich weiß nichts von der Angst meiner Mutter und Großmutter, ahne nichts von der Gefahr der anmarschierenden Russen. Ich warte nur ungeduldig auf das Weihnachtsglöckchen, während unten im eleganten Saal noch die letzten Vorbereitungen im Gange sind. Mein einzig heißer Wunsch ergreift mich wieder. Letztes Frühjahr hatte ich auf unserer blühenden Wiese ein Lämmchen entdeckt, das blökend hinter seiner Mutter herlief. Das will ich!

Eine Riesentanne, die unser alter Diener Walter im Walde geschlagen und im Saal aufgestellt hat, wird nun von meiner Mutter und Großmutter mit Bienenwachskerzen und zerbrechlichen Glasskugeln geschmückt, kostspielige Verzierungen, die sich bald mit den echten Teppichen, antiken Möbeln und dem Meißner Porzellan als Kriegstrümmer anhäufen werden. Wir sind nur eine kleine Gruppe an diesem Heiligen Abend, ich, die Mutter, Großmutter und der Diener Walter. Die anderen Männer sind im Krieg, und das andere Personal ist längst über das Riesengebirge entflohen.

Endlich ist es soweit. In meinem blauen Seidenkleid mit passender Schleife rutsche ich die Stufen hinunter und folge dem Klang des Glöckchens. Und dann sehe ich weder die brennenden Kerzen, noch die bunt verpackten Geschenke, noch Walter als verkleideter Weihnachtsmann mit Rucksack. Ich fliege auf das einzig ersehnte Geschenk zu, ein Lämmchen, das meine Mutter, eine Künstlerin im Basteln, aus schneeweißem Frottiertuch gezaubert hat. Meine Hände zittern vor Freude als ich die schwarze Stupsnase streichle, die rosa öhrchen berühre und die glänzenden Knopfaugen mit Inbrunst betrachte. Den Schwanz, der sich durch einen unsichtbaren Draht bewegen läßt, biege ich ganz behutsam. Dann presse ich meinen neuen Freund an die Brust und lasse ihn nicht wieder los, weder beim Lieblingsnachtisch, Bratäpfeln mit Honig, Rosinen und Nüssen, noch eingemummelt im Federbett und auch nicht auf der Flucht. Denn schon am nächsten Morgen nahmen wir Abschied von jeglichem Vertrauten und allem Immergrün.

Noch heute lebt mein ehemaliger Gefährte eingemottet in einem meiner Schränke.

*

Wir ließen uns in Westdeutschland nieder. Es gab karge Nachkriegswinter, aber gedämpftes Lachen erschalte in jeder Adventszeit, wenn wir alle, meine Mutter, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel und gelegentlich ein Freund oder Nachbar sich abends bei uns versammelten. Waren die Tage auch windig und frostig, die Nächte bitter kalt, so war doch das warme Zimmer sehr einladend. Wir hatten wieder einen Kachelofen und auf dem Adventskranz steckten vier dunkelrote Kerzen. Ein süsser Geruch entströmte den Tannenzweigen. In dieser Stimmung fingen wir an unsere Weihnachtsgeschenke zu basteln, eine Beschäftigung, die eine Lehre enthielt. Ich habe die wundersame Bedeutung dieser Lehre erst viel später im Leben verstanden.

Meine Geschwister und ich hatten kleine Holztruhen, in denen wir wie in geheimen Höhlen unsere Schätze aufbewahrten. Unserem Alter entsprechend schmückten wir die Deckel mit Aufklebeschildern oder bemalten sie in allen Farben. Das Innere der Truhen wurde mit Stoff bespannt. Ich hatte eine Vorliebe für Mondrian, und so war meine Truhe mit bunten Vier-und Dreiecken und Kreisen dekoriert. Mein Bruder hatte wenig Ehrgeiz im Schmücken. Er war mit rohem Holz zufrieden. Manchmal klebten wir Bilder unter die Deckel. Erst waren es Tier-und Familienbilder, später Zeitungsausschnitte von Schauspielern, und dann boten die Innenseiten der Deckel die besten Verstecke für die Briefchen von Freunden.

Als der Schnee herabrieselte und sich in dicker Schicht auf die Fensterbretter legte, waren wir die geschäftigen Heinzelmännchen. Meine Schwester und ich häkelten Topflappen und strickten endlos baumelnde Schals, die man wie Schlangen um die Hälse wickeln konnte. Wir klebten gepreßte Blumen auf Kalenderseiten und Buchzeichen, verzierten kleine Holzdosen mit polierten Steinen und Federn und fädelten gefärbte Nudeln als Ketten auf. Meine Mutter plättete Stroh, und mit goldenem Garn banden wir die flachen Halme zu Strohsternen zusammen. Mein Bruder, der Freude am Schnitzen hatte, meißelte einmal für mich aus einem Knochen ein Schaf, das meinem Lämmchen gleichen sollte. Meine Schwester hatte einen kleinen Kinderwebstuhl auf dem sie mutig Wandbehänge anfertigte. Meine Lieblingsbeschäftigung waren Bezüge für Kleiderbügel. In kräftigen Farben häkelte ich lange, dünne ärmel, die ich dann über Holzbügel zog. Mit Stolz hing ich Maschen-Werke in den Kleiderschränken meiner Lieben auf. Als ich älter wurde strickte ich mit der gleichen Begeisterung Pullover. Mein Freund bekam einen dunkelblauen mit weißen Noppen, den er auch treulich zum Skifahren trug.

Wir markierten unsere Geschenke mit beschrifteten Aufklebezetteln: " Für meine Mutter, die Beste in der Welt," "Bruderherz," "Omi Maria, was machte ich ohne Dich?" An meinen Freund kritzelte ich heimlich "Ich liebe Dich" auf einen Zettel, den ich dann schnell zusammenfaltete und ihn mit einem Lippenstiftkuß besiegelte! Unsere Stimmen summten wie ein brummender Ventilator. Wir knabberten an frisch gebackenen Weihnachtsplätzchen und während die Erwachsenen Glühwein tranken, ließen wir uns heißen Apfelsaft schmecken. Die Großväter machten es sich auf der Couch gemütlich und ihr Pfeifenrauch vermischte sich mit den anderen Adventsgerüchen. Wir sangen die traditionellen Weihnachtslieder und träumten mit offenen Augen und tätigen Händen vor uns hin. Ich malte mir den nächsten Ausflug mit meinem Freund in die verschneiten Berge aus, und ich bin mir sicher, daß die ältere Generation weit ihre Seelenflügel ausspannte und sehnsüchtig in ihre schlesische Heimat zurückflog.

Im Hintergrund all unserer Beschäftigungen werkte meine Mutter. Sie hütete die wundersame Adventsstimmung. Ich sehe sie wieder vor mir, die schöne, jugendlich schlanke Zauberin, die unermüdlich von einem zum andern wechselte, um eine heruntergerutschte Masche aufzufangen, einen verkehrten Nadelstich wieder aufzulösen. Dabei blieben ihre Lippen feucht von ständigen Einfädeln. Meine Mutter glättete manche Woge zwischen uns wetteifernden Geschwistern, und sie besänftigte die Alten, die sich schnell vernachläßigt oder übergangen fühlten, besonders wenn einer von uns ihnen ihr Lieblingsplätzchen vor der Nase wegschnappte oder eine ihrer langwierigen Erzählungen unterbrach. Meine Mutter war auch die Vorleserin. Wenn sie sich endlich einmal hinsetzte und ihre Händen ruhen ließ, hatte ich schon mein Lieblingsbuch "Die Reise des Nils Holgerson" bereit, um es ihr unter ihre bebrillte Nase zu schieben.

Dunkelheit schmiegte sich an die Fenster, und nur die Schneeflocken erleuchteten die mondlose Nacht. Nun waren wir bereit, mit Nils loszufliegen. Auf den breiten, geplosterten Flügeln seiner weißen Wildgans ließen wir uns zuversichtlich nieder und mit einem Schwingenschlag durchbrachen wir die Anziehungskraft der Erde. Wir flogen durch dichte Wolken, hoch über nebelverschleierte Berge, durch tiefgrüne Täler. Die Zeit stand still und von einem Augenblick zum andern konnten feurige Sonnenaufgänge mit sternhellen Nächten vertauscht werden. Die stimmungsvolle Kraft der Phantasie trug uns von einer Welt zur anderen.

Was für eine Sicht wurde uns gewährt! Unten auf der Erde waren die Häuser wie Spielzeug klein und die Wände durchsichtig. Wir konnten ohne Schwierigkeiten in die Zimmer der Menschen hineinschauen. Es war auch leicht, an ihren vielfältigen Tätigkeiten teilzunehmen. Wir wurden Goldgräber in Kalifornien, trieben die Ponnies der Indianer in Wyoming zu rasendem Galopp an, und wir weinten, als wir in Finnland Zeuge wurden wie ein Fischer einen kleinen Seehund erschlug. Manchmal wollten wir an einem Ort verweilen und den Armen in Londons Elensvierteln beistehen und die Waisen trösten. Danach waren wir jedoch von den vergoldeten Prunkmöbeln im Palast so angetan, daß wir uns wie Kleister an den Brokatfransen festhielten. Aber meine Mutter blätterte um und wir wurden wieder in die Rolle der beharrlichen Zuhörer zurückversetzt. Zahlose Leben spulten sich in Blitzesschnelle vor unseren Augen ab, und am Ende eines Aventabends niesteten sich die aufgespeicherten Eindrücke tief in unseren Seelen ein.

Während ich an der Reise des kleinen Nils teilnahm, säte sich der Samen für meine Gedichte und Geschichten in meinem Gefühlen aus. Später, eingekuschelt im warmen Bett, holte ich meine Taschenlampe unter dem Kopfkissen hervor und began, meine Eindrücke in mein Tagebuch zu schreiben.

Dann war es endlich so weit. Der Morgen des Heiligen Abends erwachte mit dem Zwitschern der wenigen Vögel, die im Schutz der mächtigen Zweige unserer alten Tannen die Kälte mit Gesang überstanden. Kaum hatten wir unser Frühstück verschlungen, so fuhren unsere flatternden Finger noch einmal mit Besitzerstolz über jedes Geschenk. Dann hüllten wir uns in Mäntel und stülpten Fausthandschuhe und Wollmützen über Hände und Ohren. Wir verwandelten uns wieder in Heinzelmännchen, diesmal in solche, die von Tür zu Tür rannten, klingelten und mit größter Hast Päckchen auf der Schwelle ablegten. Wir waren schon verschwunden, wenn sich Schritte im Hausflur näherten. Manchmal stießen wir bei unserem eiligen Rückzug auf davoneilende Freunde, die sich auf den selben geheimnisvollen Pfaden befanden. Wir taten so, als hätten wir uns nicht gesehen. Als der Nachmittag sich verdunkelte, tauten wir Zuhause in der Wärme wieder auf und bereiteten uns auf den Höhepunkt des Abends vor, den mit Kerzen strahlenden Baum, die bunten Teller, das traditionelle Singen und die Geschenke. Unsere Herzen klopften schneller, wenn wir unter all den überraschungen kleine Päckchen von unseren Freunden entdeckten, und wir hofften, daß die Empfänger unserer Gaben ebenfalls vor Erwartung ein bißchen bebten.

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In der Adventszeit zogen wir uns von der Außenwelt zurück, um im Verborgenen Geschenke anzufertigen. Aber am Heiligen Abend ging es dann wieder in die weitere Gemeinschaft hinaus. Unsere Tätigkeit glich dem Rhythmus von Schmetterlingen, die ihre Flügel öffnen und schließen. Wir waren beim Basteln der Geschenke ganz bei uns selbst, doch reichten wir mit unserem Spenden über uns selbst hinaus. Die wunderbare Lehre des Gebens und Nehmens war einfach dies: Das, was uns nährt, muß auch von uns genährt werden.

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